Wie Ali gegen Liston 11FREUNDE

Dieser Text erschien ursprnglich am 29. Juni 2012, dem Tag nach dem EM-Halbfinale zwischen Deutschland und Italien (1:2). Dartpfeile, Sportwagen, Strafzettel, Silvesterbller, Mafianhe, Why always me. Ja ja, bla bla. Die Skandale und Anekdoten von und zu Mario Balotelli sind hinlnglich beschrieben, fast ist man ihrer berdrssig. Gerade deshalb nimmt sich das gestrige Halbfinale angenehm

Dieser Text erschien ursprüng­lich am 29. Juni 2012, dem Tag nach dem EM-Halb­fi­nale zwi­schen Deutsch­land und Ita­lien (1:2).

Dart­pfeile, Sport­wagen, Straf­zettel, Sil­ves­ter­b­öller, Mafia­nähe, Why always me. Ja ja, bla bla. Die Skan­dale und Anek­doten von und zu Mario Balotelli sind hin­läng­lich beschrieben, fast ist man ihrer über­drüssig. Gerade des­halb nimmt sich das gest­rige Halb­fi­nale ange­nehm aus, will man end­lich mal über Balotelli schreiben, ohne ihn gleich wieder als Ego­manen oder Bad Boy, wahl­weise auch als Que­ru­lanten oder Para­dies­vogel zu stem­peln. Denn ges­tern war gemäß dem alten Motto von Alfred Preißler ent­schei­dend wirk­lich nur auf dem Platz. Und da über­ragte der Stürmer alle.

Seinen Lauf nahm das Schicksal, das sich für die Deut­schen als kein güns­tiges erweisen sollte, schon im Kabi­nen­gang. Draußen kochte der Sta­di­on­ani­ma­teur die Stim­mung hoch, drinnen ver­sam­melten sich die Gla­dia­toren, bereit zum Ein­marsch in die Arena. Die Löw’­schen Zög­linge blickten ernst an der Kamera vorbei, fast ver­kniffen. Man konnte das Fokus nennen oder posi­tive Anspan­nung, aber es war eines sicher­lich nicht: Über alle Maßen strot­zendes Selbst­be­wusst­sein, gepaart mit dieser Prise Locker­heit und Süf­fi­sanz. Beides braucht es indes manchmal, um dem Fuß­ball beson­dere Momente abzu­trotzen, und beides ließ eher sich am hin­teren Ende der Kata­komben fest­stellen.

Da stand Mario Balotelli und grinste, nein, eigent­lich deu­tete er ein Grinsen nur an, die Mund­winkel hoben sich spöt­tisch, er guckte gleichsam an der Kamera vorbei, aber einmal guckte er auch direkt hinein. Als TV-Zuschauer wusste man sich von der bösen Ahnung nicht zu befreien, der Junge mit dem Hah­nen­kamm plane irgend­eine Unge­heu­er­lich­keit.

Zerren und Reißen, wie ein kleines Kind

Balotelli ließ sich Zeit. Die Anfangs­phase besah er sich zumeist im Mit­tel­kreis, weil das deut­sche Team drückte und drängte. Bis zur 20. Spiel­mi­nute. Kol­lege Antonio Cassano krei­selte Boateng und Hum­mels schwindlig, seine Flanke senkte sich an den Fünf­me­ter­raum. Weil ein böser Unbe­kannter Holger Bad­s­tuber mit Pattex an den Rasen geleimt hatte, drückte Balotelli den Ball ohne große Gegen­wehr über die Linie. Es hätte aber auch keinen Unter­schied gemacht, wäre Bad­s­tuber hoch­ge­stiegen. Die Art und Weise, wie der Stürmer gelauert, wie er sich in des Ver­tei­di­gers Rücken geschli­chen und mit zwei, drei schnellen Schritten vom Boden kata­pul­tiert hatte, ließe keinen Zweifel daran, dass Balotelli diesen Treffer wollte. Zur Erin­ne­rung: Bad­s­tu­bers Mimik im Spie­ler­tunnel war irgendwo zwi­schen totaler Humor­lo­sig­keit und Ver­stehen-Sie-Ernst gepen­delt. Ein solides Gesicht. Kein Grinsen.

Sein 1:0 beju­belte Balotelli wie ein kleines Kind, er spur­tete in die Arme der Kol­legen, riss und zerrte dabei an seinem Trikot. Fast schien es, als über­legte der Iro­kese von Man­chester City jetzt schon, den Stoff über den Kopf zu reißen. Er tat es nicht. Weil das Tor zwar schön, aber nicht spek­ta­kulär gewesen war. Weil ein schönes, aber noch dazu spek­ta­ku­läres Tor war­tete. Das süf­fi­sante Grinsen. Balotelli musste es geahnt haben.

Er kam, sah – und zer­schoss das Netz

In der 36. Minute hebelte Ric­cardo Mon­to­livo die deut­sche Abwehr aus, und wäh­rend Philipp Lahm noch mit dem 50:50-Joker zwi­schen Mann­de­ckung und Abseits­falle zu ent­scheiden suchte, stampfte Mario Balotelli auf Manuel Neuer zu. Ähn­liche Situa­tionen hatte es im Vier­tel­fi­nale gegen Eng­land en masse gegeben, erst recht natür­lich im Auf­takt­duell mit Spa­nien, als sich ein ein­schla­fender Balotelli noch von Sergio Ramos abgrät­schen ließ. Gegen Deutsch­land wollte er sich diesen Vor­wurf nicht machen lassen, nicht schon wieder. Balotelli kam, sah – und zer­schoss das Netz.

Manuel Neuer, bei einem gefühl­vol­leren Ver­such ob seiner lin­ki­schen Hand­ball­re­ak­tionen viel­leicht mit Abwehr­chance, blieb so nur der leere Blick in den Knick. Mario Balotelli hatte nicht ein­fach nur ein Tor geschossen. Er hatte den Ball rein­ge­grinst, süf­fi­sant und ent­schlossen zugleich. Das 2:0 war ein Aus­ru­fe­zei­chen mit 123 km/​h. Untrai­nierbar“, so einst die ätzende Kritik von José Mour­inho am wan­kel­mü­tigen, auf der Rasier­klinge rei­tenden Balotelli. Die beiden Tore gegen Deutsch­land waren auch untrai­nierbar, auf ihre Art.

Ein ein­ziger, jubelnder Muskel

Und als sei es damit noch nicht genug, zog er diesmal wirk­lich blank. Der Dop­pel­pa­cker ver­schränkte die Arme, ballte die Fäuste, war­tete auf die Kol­legen. Der ganzer Körper wurde zu einem ein­zigen Muskel, sehnig und glatt und archa­isch, und Mario Balotelli grinste, ohne zu grinsen. Genauso muss sich Muhammad Ali gefühlt haben, über Sonny Liston gebeugt, 1965. Ein iko­ni­scher Moment dieser Euro­pa­meis­ter­schaft, viel­leicht sogar der Fuß­ball­ge­schichte. Das wird das Finale zeigen. Sollte Balotelli auch gegen die Spa­nier so urge­waltig auf­treten, sprich: Tore schießen, Bälle behaupten, abschirmen und ablegen, Frei­stöße und Ein­würfe holen, sich sogar defensiv bis zum Waden­krampf auf­reiben – dann ist er wirk­lich der Größte.

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